Newton plus Kepler – die KI-Erfolgsformel
07.05.2021
Die Kombination von physikalischem Wissen und digitalen Daten bringt die Entwicklung künstlicher Intelligenz voran. Hier liegt eine große Chance für die europäische Industrie.
von Dr. Volkmar Denner
Der Weg in Europas Zukunft führt über Jahrhunderte zurück. Überraschenderweise bringt uns die Reflexion auf die Geschichte nicht nur politisch und kulturell, sondern auch technisch voran. Wer sich bloß auf die Gegenwart fixiert, kann aktuell leicht verzagen. Nicht erst seit Corona gehört zum Bild von Europa die Legende von Europas Unterlegenheit. Meist ist dann vom „alten Europa“ die Rede. Zu langsam seien wir, allzu perfektionistisch und oft auch zu skeptisch. Gut genug, um einen Impfstoff zu erfinden, aber nicht agil genug, um ihn so schnell wie andere zu verteilen.
Diese Suggestion des eigenen Mankos wird besonders deutlich, wenn es um neue Technologien wie die künstliche Intelligenz geht. Da trauen wir dem Silicon Valley nahezu jede Innovation zu, um sogleich um Europas digitale Souveränität zu bangen. Es ist ja richtig, dass Europa technologisch nicht abhängig werden darf, also zum Beispiel eigene Datenplattformen benötigt. Aber Souveränität ohne Selbstbewusstsein ist nicht möglich. Wenn es um künstliche Intelligenz geht, sollte sich die europäische Industrie nicht zuletzt auf die Synthese von Newton und Kepler besinnen – um zwei Giganten europäischer Geisteskraft zu nennen.
Ein kurzer Ausflug in die Geschichte der Physik
Diese These, die doch einen Ausflug in die Physik des 16. und 17. Jahrhunderts bedeutet, erscheint kühn, da es um die Innovation des 21. Jahrhunderts geht. In der Tat hat sie ihre Berechtigung. Da ist zum einen Isaac Newton, der die Grundprinzipien der Mechanik beschrieben hat. Kraft gleich Masse mal Beschleunigung – das ist sein bekanntestes Axiom. Newton hat die Welt, so würden wir heute sagen, modelliert. Zum anderen ist da Johannes Kepler, der über 20 Jahre Himmelsbeobachtungen gesammelt hat. Daraus konnte er schließen, dass sich die Planeten in Ellipsen um die Sonne bewegen. Wenn wir so wollen, hat Kepler, der übrigens aus der Nähe von Stuttgart stammt, „big data“ in die Astronomie eingeführt.
Mehr denn je kommt es auf die systematische Kombination beider Ansätze an, also von physikalischen Modellen und Daten. Erst diese Kombination im sogenannten Kalman-Filter hat vor gut 50 Jahren die Exaktheit der Mondlandung ermöglicht – die Navigation von Apollo 11 über 400 000 Kilometer auf 500 Metern genau. Genauso können wir Autos, Hausgeräte und Maschinen intelligenter machen, indem wir nicht nur Daten sammeln, sondern in die Datensammlung auch physikalisches Wissen über die Dinge einbringen. In diesem hybriden Ansatz, also in der Synthese von Newton und Kepler, liegt die Chance für Europas Industrie in der Entwicklung künstlicher Intelligenz. Willkommen zurück im 21. Jahrhundert!
Europas Weg in der KI-Welt des 21. Jahrhunderts
Auch und gerade wenn wir einen unverwechselbar europäischen Weg in der Welt der künstlichen Intelligenz skizzieren, dürfen wir die wirtschaftlichen Fakten nicht verkennen. Zugegeben finden in dieser Welt die mit Abstand höchsten Investitionen in den USA und China statt. Quantitativ scheint Europa abgeschlagen, umso weniger dürfen wir einen qualitativen Unterschied verkennen. Während die großen amerikanischen IT-Firmen ihr Geld vor allem mit datenbasierten Services verdienen, haben europäische Unternehmen die Chance, mit industriellen KI-Anwendungen global an der Spitze zu stehen. Gerade hier können sie ihre Stärken einsetzen – die Herstellung komplexer physischer Erzeugnisse ebenso wie die Auswertung von Maschinen- und Produktdaten.
Und nicht zuletzt bringen Unternehmen wie Bosch ein vielseitiges Branchen- und Produktwissen mit, im Auto ebenso wie in Gebäuden und Fabriken. Eben dieses Domänenwissen können sie mit Know-how im Internet der Dinge und künstlicher Intelligenz verbinden. Dieser hybride Ansatz ist die beste Voraussetzung, um künftig etwa das automatisierte Fahren sicher und robust zu machen. Wie lassen sich KI-Modelle für die offene Welt des Straßenverkehrs trainieren – das ist die Frage. Sie mit Abermillionen Datenpunkten auf jedes mögliche Ereignis einzustellen – das wäre viel zu aufwändig. An diesem Punkt lässt sich die Entwicklung forcieren, indem die Kenntnis der Dinge – sprich: das Systemwissen im Auto – die Auswertung der Daten ergänzt. Auch die Automobilindustrie kann die Erfolgsformel „Newton plus Kepler“ auf dem Weg in die Zukunft nutzen.
Wie der Straßenverkehr mit Hilfe von KI sauberer wird
Schon das Emissionsverhalten eines Autos, das bekanntlich nicht mehr auf dem Prüfstand, sondern auf der Straße getestet wird, lässt sich allein mit Daten nicht effizient bewerten. Denn es gibt mehr als nur eine ideale Prüfstrecke, im Gegenteil sind Fahrbetrieb und Umweltbedingungen hochgradig divers. Auch hier stellt sich das Problem der offenen Welt, und man wird kaum für jede Anpassung eines Abgassystems einmal um die Welt fahren können. Also haben wir bei Bosch auf den Pfaden von Kepler aus Feldbeobachtungen eine Statistik des Fahrverhaltens abgeleitet.
Und ganz im Geiste von Newton ist auf Basis dieser Statistik mit Hilfe künstlicher Intelligenz ein Modell des realen Fahrens entstanden – sowie eine virtuelle Testumgebung, die alle wesentlichen Komponenten enthält, von Eingriffen des Fahrers bis hin zu den Parametern in Motor, Steuergerät und Abgasnachbehandlung. Diese Parameter je nach Strecken- und Umweltbedingungen zu verändern – das gelingt um ein Vielfaches schneller als bisher. Tatsächlich lassen sich mit der KI-basierten Lösung 1 000 reale Fahrstunden in einer Stunde durchspielen. So hilft die hybride Entwicklung der künstlichen Intelligenz, die Emissionen des Straßenverkehrs zu minimieren.
Auch mit Einstein werden KI-Modelle schlauer
Auch auf dem Weg zur CO₂-neutralen Mobilität bringt uns die Mischung aus theoretischer Physik und Datenauswertung voran. So geht es in Brennstoffzellen-Systemen darum, den Einsatz von Edelmetallen mit neuen und zugleich robusten Katalysatormaterialien deutlich zu reduzieren. Solche Materialien können künftig mit Quantencomputern bis in die atomare Struktur simuliert werden. Grundsätzlich ist diese Simulation auch mit herkömmlichen Computern möglich – dabei wird sie im Zusammenspiel mit künstlicher Intelligenz um den Faktor 1 000 beschleunigt. Auch hier wird das zugrundeliegende KI-Modell nicht allein mit maschinellem Lernen erzeugt, sondern mit Wissen aus der Physik. Und diesmal kommt das Wissen aus der Quantenmechanik, es ruht nicht auf den Schultern von Newton, sondern von Einstein und Schrödinger. Das Modell selbst wird damit so schlau, dass es sich, frei nach Kepler, schneller trainieren lässt. Auf der Suche nach neuen Katalysatormaterialien wird die hybride KI selbst zum Katalysator.
Ohne das Wissen um die Dinge ist alles nichts
Längst gibt es bei Bosch eine Reihe von Beispielen für den neuen Entwicklungsansatz. So kommt es etwa in der Reinraum-Fertigung von Halbleitern darauf an, die Werkstück-Träger ohne mechanischen Abrieb zu bewegen. Eine Lösung kann das elektromagnetische Schweben der Transportplatten sein – nur wenige Millimeter über dem Boden. Dafür ist die Regelungstechnik mit künstlicher Intelligenz entstanden, wiederum in der Mischung von physikalischen und datengetriebenen Modellen. Wenn sich Bosch heute als AIoT-Unternehmen versteht, dann vor allem wegen der Fähigkeit zur Analyse großer Mengen von Maschinen- und Produktdaten, wie sie durch die Kombination der „Artificial Intelligence“ mit dem „Internet of Things“ möglich wird. Aber auch dabei liegt die Betonung auf dem großen T. Ohne das Wissen um die Dinge ist alles nichts.
Erstveröffentlichung im Handelsblatt am 7. Mai 2021