Test- und Prüfzentrum Boxberg
Das Popometer fährt mit
Auf regennassen Fahrbahnen kontrolliert durch Kurven schleudern oder beim „Absprung“ vom Steilhügel einen winzigen Moment in der Luft schweben: Seit 25 Jahren berechnen, programmieren und testen Applikationsingenieure im Test- und Prüfzentrum Boxberg vor allem das Verhalten von Steuer- und Regelsystemen. Oberstes Ziel dabei: Mehr Sicherheit auf den Straßen.
Das Fahrzeug schlittert bei Hochgeschwindigkeit über die nasse Fahrbahn, klettert auf zwei Rädern über den Steilhügel und hängt dann einen Moment lang in der Luft. Die hält auch der Beifahrer an, aber der Testfahrer will wissen: Wie ist das Bremsverhalten? Endlich ist die Fahrt überstanden und der Testfahrer verwandelt sich wieder in den Applikationsingenieur. Er verschwindet, den Laptop unter den Arm geklemmt, in eines der Büros.
Es wird deutlich: Das Test- und Prüfzentrum besteht nicht nur aus einem spektakulären Rundkurs. Büros und Werkstätten liegen direkt neben der Strecke. So sind kurze Wege gewährleistet und das Gelände ist gegen Blicke von außen abgeschirmt. Von Anfang an waren die Bürogebäude mit Anschlüssen für Laptops ausgerüstet – und schnell konnte man sich ins Netz des Bosch-Standorts Schwieberdingen einloggen. Notwendige Software-Updates waren dadurch verfügbar. In den kleinen Büros wird nachgebessert, neu programmiert, mit den Kunden diskutiert – und wieder getestet und das seit 25 Jahren.
Die Eröffnung des Test- und Prüfzentrums Boxberg fand am 15. Juni 1998 im kleinen Kreis statt. Der baden-württembergische Ministerpräsident Erwin Teufel und der Vorsitzende der Bosch-Geschäftsführung, Hermann Scholl, öffneten gemeinsam die Schranke zur Teststrecke. Dort rollten die ersten Testfahrzeuge heran, rasten los und waren blitzschnell aus den Augen der Zuschauer verschwunden – bis zur nächsten Runde.
Der Eröffnung folgte eine Reihe von Veranstaltungen: Ein großes Sommerfest für die Einwohner des benachbarten Ortes Boxberg, Tage der Offenen Tür für Bosch-Mitarbeiter und eine Veranstaltung für die Fachpresse, die von da an regelmäßig im Testzentrum Boxberg stattfand.
Testfahrten fanden allerdings schon lange statt und mit weiterer Entwicklung der Automobiltechnik in der Nachkriegszeit mussten auch die neuen oder verbesserten Techniken erprobt werden. In den späten 1950er und den 1960er Jahren war der Straßenverkehr zwar noch weitaus geringer als heute, aber dennoch entschieden sich die Testfahrer lieber für nächtliche Fahrversuche auf den öffentlichen Straßen. Getestet wurde vor allem Einspritztechnik und Fahrzeugelektrik. Richtig glücklich damit waren weder Entwickler noch Testfahrer, und vermutlich auch nicht die weiteren Verkehrsteilnehmer.
Eine erste kleine Teststrecke entstand mit dem Bau des Schwieberdinger Entwicklungszentrums, das 1968 in Betrieb ging. Auf ihr konnte das Antiblockiersystem ABS getestet werden. Für die notwendige Wintererprobung fand sich im schwedischen Arjeplog ein taugliches Gelände. Doch mit der Entwicklung der Fahrzeugdynamikregelung Ende der achtziger Jahre war die Schwieberdinger „Sommererprobungsstrecke“ sowohl im Umfang als auch dem Ausbau überfordert. Aber Schleudertests auf öffentlichen Straßen fahren? Es wurde offensichtlich: Eine neue Strecke musste her! Die Suche begann.
Mit Boxberg war schnell ein geeignetes Gelände gefunden. Allerdings hatte sich wenige Jahre zuvor ein Automobilhersteller für den gleichen Zweck vergeblich um dieses Gelände bemüht, jedoch mit erheblich mehr, nämlich mit dem fast achtfachen Platzbedarf. Großprojekte waren zwar für den Wohlstand im ländlichen Raum wichtig, jedoch war das Bewusstsein für ökologische Belange gestiegen. Von Anfang stellte Bosch klar, dass es sich bei dem Test- und Prüfzentrum nicht um ein Naturschutzgebiet handeln würde, aber es „im Einklang mit der Natur stehen“ sollte. Und: „Ohne die Zustimmung der Bevölkerung von Boxberg wird Bosch dort nicht bauen.“
Nachdem der Gemeinderat sich in einer Bürgerversammlung im Dezember 1994 einstimmig für das Projekt ausgesprochen hatte, begann eine rasante Baugeschichte. Das folgende Jahr wurde für die Planung des 100-Millionen DM-Projektes genutzt: Eine Projektgruppe mit Fachleuten aus den unterschiedlichen Bereichen, vor allem aus dem Bereich ABS und Bremsen, wurde zusammengestellt: Automobil- und Baufachleute diskutierten gemeinsam die Anforderungen an ein hochtechnisches Test- und Prüfzentrum.
Mit dem ersten Spatenstich im Frühjahr 1996 wurden auf dem 75 Hektar großen Gelände die Erdarbeiten in Angriff genommen. 24 Millionen Kubikmeter Erde wurde auf der größten Baustelle Süddeutschlands abgetragen und an anderer Stelle wieder aufgeschüttet. Die Schräglage des Geländes wurde dadurch ausgeglichen.
Die Strecken des Prüfzentrums sollten aus mehreren Streckenmodulen bestehen, eingefasst durch einen ovalen mehrspurigen Rundkurs. Handlingkurs, Fahrdynamikplatte, Steigungshügel, Rüttel- und eine Wasserstrecke gehörten dazu.
Aquaplaning sollte simuliert werden. Präzise und ohne Abstriche an die Testanforderungen wurden die Strecken gestaltet: So erforderte der Bau der Steilkurven einen hydraulisch gesteuerten Kurvenfertiger, den es weltweit nur einmal gab. Abenteuerlich, wie die Walzen an Stahlseilen durch die Steilkurven rollten.
Für die Holperstrecken wurden die Steine aus ostdeutschen oder belgischen Steinbrüchen geliefert – nur sie besaßen die benötigte „ruppige Struktur“. Jürgen Zechmann aus dem Geschäftsbereich „ABS und Bremssysteme“ und Koordinator des Projekts, nahm selbst den Hammer in die Hand und pflasterte eigenhändig ein paar Quadratmeter. Die Bauleute hatten nicht glauben können, dass ein „Straßenbelag“ wirklich so uneben sein sollte. Nach nur zweijähriger Bauzeit wurde das Prüfzentrum mit Teststrecken in Betrieb genommen. Ein wichtiger Schritt für die weitere Entwicklung, und Erprobung, vor allem von Steuer- und Regelsystemen wie ABS bis hin zur Geschwindigkeitsregelung ACC (Adaptive Cruise Control).
Die elektronischen Steuermodule der Teststrecken sind auf diese Systeme abgestimmt. Da verschiedene Störgrößen am Rechner nicht abgeschätzt werden können, waren und sind diese Fahrerprobungen unerlässlich. Das Straßenverhalten der Fahrzeuge muss mit dem „Popometer“ des Fahrers, sprich seiner empfindlichen Sitzfläche getestet werden.
Die Teststrecke wurde 2015 in verschiedene Abschnitte so umgebaut, dass die Module einzeln genutzt werden können. Auch Kunden haben die Möglichkeit, ihre Fahrzeuge unter reproduzierbaren Bedingungen in Alltagssituationen zu testen.
Nach wie vor ist das oberste Ziel des Test- und Prüfzentrums: Sicherheit auf den Straßen! Dafür wird in Boxberg seit 25 Jahren berechnet, programmiert und getestet.
Autorin: Angelika Merkle