Industrie 4.0: Wie Mensch und Maschine verschmelzen
Im Gespräch mit dem Digital Advisor bei Ottobock
09.10.2019
Technologie, die denken und fühlen kann: Digitalisierte Produkte wie Prothesen und Orthesen erleichtern den Alltag von behinderten Menschen und Exoskelette unterstützen spezialisierte Arbeiter in den Fertigungshallen der Zukunft.
Der erweiterte Mensch
Technologie, die den menschlichen Körper verbessert – das klingt für viele nach Science-Fiction. Dabei ist sie längst Teil unseres Alltags, sagt Sarik Weber: „Ich denke, wir sehen das bereits in kleinerem Maßstab in Form von Kontaktlinsen, Schuheinlagen und Wearables.“ Solche Hilfsmittel sind für die meisten Menschen keine Besonderheit mehr, obwohl sie den Körper ergänzen und unterstützen. Dieses Prinzip ist auch Teil vieler Ottobock-Produkte.
Das international tätige Medizintechnikunternehmen aus Niedersachsen stellt seit über 100 Jahren Prothesen und Orthesen her, die Menschen dabei helfen, ihre Beweglichkeit wiederherzustellen oder beizubehalten. Rund 7 000 Mitarbeiter entwickeln und fertigen unter anderem künstliche Gliedmaßen, die es den Nutzern ermöglichen, wieder zu greifen oder zu gehen. Von Science-Fiction ist man bei Ottobock aber gar nicht mehr so weit entfernt: Denn die Orthopädie wird dort gerade digitalisiert – durch Algorithmen, Mikroprozessoren und Sensoren.
Smarte Prothese lernt vom Nutzer
Nutzer von Ottobocks Beinorthese „C-Brace“ können beispielsweise per Smartphone-App vom Lauf- in den Fahrradfahr-Modus wechseln und den gewünschten Grad an Unterstützung einstellen. Noch smarter ist die Prothesensteuerung „Myo Plus“: Sie nutzt eine Mustererkennung, um von ihrem Nutzer zu lernen. Durch Elektroden misst sie die Muskelaktivitäten im Armstumpf und interpretiert diese mit Hilfe von maschinellem Lernen. Über eine App lernt sie, welche Bewegungsmuster für den Nutzer typisch sind. Dadurch kann die Prothese anhand von Muskelspannung, die für einzelne Bewegungen charakteristisch ist, im Voraus erkennen, welche Armbewegung der Nutzer als nächstes machen möchte und ihn bei der Ausführung unterstützen.
Der Einzelne zählt
Ottobock nutzt sein Know-how aus der Medizintechnik inzwischen auch in anderen Geschäftsfeldern: Seit 2018 gibt es eine neue Produktsparte für die industrielle Anwendung, zu der auch Exoskelette gehören. Sie sollen die menschliche Arbeit revolutionieren und in den Fertigungsstätten der Zukunft eine wichtige Rolle spielen. Dort findet man inzwischen immer mehr Roboter. Dass auf absehbare Zeit nur noch Maschinen und keine Menschen mehr in den Produktionshallen arbeiten, hält Weber jedoch für abwegig: „Ich denke, dass wir wahrscheinlich immer Menschen in unseren Fabriken brauchen werden – Facharbeiter mit guten Kenntnissen – und dass die Maschinen und Roboter den Menschen bei ihrer Arbeit helfen werden.
Ich glaube nicht, dass wir vollständig auf menschliche Arbeitskräfte verzichten können.“ Stattdessen werde der einzelne Mitarbeiter in Zeiten des Fachkräftemangels und des demografischen Wandels immer wichtiger. „Für Unternehmen geht es darum, die Arbeitsfähigkeit ihrer Mitarbeiter zu erhalten und ihre Leistungsfähigkeit zu steigern“, sagt Weber. Das gestaltet sich jedoch schwierig. Denn in vielen Branchen wird die Belegschaft immer älter; Bandscheibenvorfälle, Gelenkprobleme und andere Muskel-Skelett-Erkrankungen nehmen zu, sie zählen zu den Hauptursachen für Arbeitsunfähigkeit. Die Lösung für dieses Problem könnten Exoskelette sein.
Mit Exoskeletten gegen Arbeitsunfähigkeit
Exoskelette sind am Körper getragene Stützstrukturen, die den Bewegungsapparat bei bestimmten Aktivitäten entlasten. Mit der Paexo-Serie bietet Ottobock eine eigene Produktfamilie von Exoskeletten an. „Menschen, die in Fabriken arbeiten, haben oft mit anstrengenden Tätigkeiten zu tun. Wenn sie Überkopfarbeiten ausführen, schont unser ‚Paexo Shoulder‘ die Muskeln und Gelenke in ihrer Schulterregion spürbar“, sagt Weber. Das Exoskelett eignet sich beispielsweise für Arbeiten in der Autoindustrie, in Schiffswerften oder auf dem Bau. Es wird ähnlich wie ein Rucksack angezogen und eng am Körper getragen.
„Damit Menschen diese Geräte nutzen können, müssen sie leicht und unauffällig sein und die Arbeit erleichtern“, sagt Weber. Das Paexo Shoulder wiegt deshalb nur knapp zwei Kilogramm. Es kommt ohne Motoren aus und funktioniert ausschließlich über eine mechanische Seilzugtechnik. Diese verlagert das Gewicht von den erhobenen Armen auf die Hüfte und entlastet dabei auch den Schulterbereich. Ottobock beschäftigt sich seit seiner Gründung mit der Frage, wie Technik als Verlängerung des menschlichen Körpers eingesetzt werden kann und hat seit rund einem Jahrhundert ein immenses biomechanisches Know-how aufgebaut. Dass dieses Wissen nun im industriellen Umfeld angewandt wird, kann als logische Erweiterung der Unternehmenstätigkeit betrachtet werden.
Die Vision: Prothesen, die „fühlen“
Zurzeit baut Ottobock in Berlin ein eigenes Zukunftslabor für die Digitalisierung der Orthopädietechnik auf. „In Berlin bringen wir Tradition mit neuen Technologien zusammen. Wir kooperieren mit Start-ups und gründen interne Start-ups, die sich auf unser digitales Geschäftsmodell konzentrieren“, sagt Weber. Mit den Start-ups wolle man digitale Innovationen in der technischen Orthopädie vorantreiben – unter anderem mit Hilfe von Künstlicher Intelligenz. Eine Zukunftsvision von Ottobock ist die Entwicklung spezieller Prothesen, die mit dem menschlichen Nervensystem verbunden sind und ein somatisch-sensorisches Feedback geben – also auf abstrakte Weise „fühlen“ können. Ein Prothesenfuß soll dadurch beispielsweise erkennen, auf welchem Terrain er unterwegs ist und sich entsprechend anpassen. Von der Weiterentwicklung solcher Prothesen könnten dann auch künftige Exoskelette profitieren.
Interview mit Sarik Weber, Digital Advisor bei Ottobock
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Im Fokus
Sarik Weber, 51
Digital Advisor bei Ottobock
Smarte Technik erlaubt es, Mensch und Maschine zu einem gewissen Grad zu verschmelzen.
Sarik Weber hat einen Abschluss als Diplomkaufmann und im Internationalen Management an der Fachhochschule Osnabrück und der Universidad de Deusto in Bilbao. Er arbeitete als Marketing- und Vertriebsprofi unter anderem für Nokia, baute das Karriereportal Xing mit auf und gründete den Start-up-Inkubator Hanse Ventures. Von Mai 2018 an war der gebürtige Hamburger Chief Digital Officer bei Ottobock, wo er die digitale Transformation innerhalb des Unternehmens steuerte und vorantrieb. Im Sommer 2019 verließ Sarik Weber das Unternehmen, ist aber weiterhin in beratender Funktion bei speziellen Digitalprojekten für Ottobock tätig.
Fazit
Das Medizintechnikunternehmen Ottobock nutzt sein Know-how aus der Prothesen- und Orthesenfertigung, um Hilfsmittel für ergonomische Arbeitsplätze herzustellen. Die Arbeitnehmer profitieren von dieser Verbindung zwischen Mensch und Maschine: Exoskelette erleichtern viele Tätigkeiten und schützen die Gesundheit.