Integrierte Sirenenerkennung
Bosch Research entwickelt intelligente akustische Sensoren, um autonome Fahrzeuge noch sicherer zu machen
Akustische Sensoren ermöglichen die Erkennung von Sirenen
Wenn Sie am Steuer Ihres Wagens sitzen, erfassen Ihre Ohren eine Menge wichtiger Informationen – insbesondere über Dinge, die Sie (noch) nicht sehen. Der Motor brummt plötzlich anders? Das Abrollgeräusch der Reifen ändert sich? Das könnte auf einen mechanischen Defekt hinweisen. Sie hören das Schreien von Kindern hinter der nächsten Ecke, die helle Glocke eines Fahrrads, und schon aus der Ferne vernehmen Sie das Martinshorn eines Einsatzwagens – Sie haben Zeit, die Fahrt zu verlangsamen und entsprechend zu reagieren. Doch was, wenn Sie selbst gar nicht das Fahrzeug steuern? Wenn Autos die höheren Levels des autonomen Fahrens erreichen, wird deren „Sinneswahrnehmung“ genauso bedeutsam wie zuvor beim Menschen als Fahrer. Natürlich spielen die Augen eine entscheidende Rolle: Kameras, Radar und Lidar-Sensoren übernehmen die Sehfunktion. Doch autonome Fahrzeuge benötigen auch Ohren. Bosch hat diesen Bedarf erkannt und arbeitet an einer KI-Lösung, um die gesetzlichen Auflagen und die generellen Sicherheitsanforderungen zu erfüllen. Dies beginnt bei der Erkennung von Sirenen.
Erfassung und Erkennung durch akustische Sensoren
In vielen Ländern ist es eine verkehrsrechtliche Vorschrift, Einsatz- oder Rettungsfahrzeugen Platz für die Durchfahrt zu gewähren, etwa eine Rettungsgasse für den Notarzt zu öffnen. Deshalb müssten selbstfahrende Autos in der Lage sein, den Ton einer Sirene zu erkennen und entsprechend zu reagieren, wie Thomas Buck, Elektroingenieur bei Bosch Research erklärt. „Häufig höre ich dazu die Frage: ‚Können autonome Fahrzeuge nicht einfach untereinander kommunizieren?‘ Doch es wird noch viele Jahre dauern, bis alle Fahrzeuge auf der Straße diese Fähigkeit besitzen. Zudem bleiben andere Verkehrsteilnehmer (Fußgänger, Radfahrer, etc.) auf die akustische Wahrnehmung von Sirenen angewiesen.“ Die intelligenten Ohren können in Form von Mikrofonen realisiert werden. Die Installation am Fahrzeug hört sich zunächst einfach ein. Immerhin sind die meisten Autos für die Freisprechfunktion oder Sprachsteuerung schon damit ausgerüstet. Doch mittlerweile leistet der Fahrzeuginnenraum bei der Schallisolierung gegen Außengeräusche ganze Arbeit. Um Außengeräusche präzise zu erfassen, müssen die akustischen Sensoren daher an der Fahrzeugaußenseite sitzen.
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Schwieriger als es scheint: Sensoren an einem Auto anbringen
Vereinbarkeit von Robustheit und Leistungsfähigkeit bei Akustiksensoren
Sensoren an der Fahrzeugaußenseite: Hier werden die Dinge ein wenig anspruchsvoller, wie Thomas Buck erklärt: „Die Karosserie eines Autos ist rauen äußeren Einflüssen ausgesetzt: Regen, Wind, Steinschlag, Öl, Reinigungschemikalien, sogar Hochdruckreiniger. Mikrofone sind sehr empfindlich; wir müssen sie deshalb angemessen schützen.“ Seit fünf Jahren stellt das Bosch Team in Stuttgart umfangreiche Versuchsreihen an, um eine adäquate Lösung zu finden: intelligente akustische Sensoren die alles mitmachen, was ihnen bei der alltäglichen Straßennutzung widerfährt. Das Mikrofon selbst ist ein klassischer MEMS-Sensor (mikro-elektromechanisches System), genau wie in Mobiltelefonen. Zu seinem Schutz hat das Team eine Membran entwickelt, welche Schallwellen weiterleitet, andere Einflüsse wie Schmutz oder Wasser aber fernhält, ähnlich wie das Trommelfell in unserem Ohr.
Dabei gilt es, die goldene Mitte zu finden: Ist die Membran zu dünn, kann das Mikrofon Schaden nehmen; ist sie zu dick, leidet die akustische Leistungsfähigkeit. Die Ingenieure prüften diverse Materialien in Dutzenden von Testzyklen. Sie setzten die Prototypen Öl, Benzin, Wasserstrahlen, und sogar kleinen Steinen aus, wie Thomas Buck schildert. „Dank der Schutzmembran widersteht unser Sensor nun all diesen Beanspruchungen und funktioniert dabei äußerst präzise.“ Weitere Tests auf Störeinflüsse wie Wind und Vibrationen ergaben die besten Standorte für die Autosensoren: an den vorderen und hinteren Stoßstangen sowie auf dem Dach.
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Die KI lernt, die akustische Signatur jedes Geräusches zu erkennen und so Sirenen von anderen akustischen Signalen zu unterscheiden.
Sirenenerkennung wird mit KI-Technologie intelligent
Mit der Erfassung von Geräuschen ist allerdings nur die erste Funktionskomponente des intelligenten Sensors abgedeckt. „Schließlich soll unser Auto auf eine Sirene reagieren, nicht auf den Einbruchsalarm eines nahe stehenden Fahrzeugs“, gibt Physiker Andreas Merz zu Bedenken. Mit seinem Team hat er KI-Algorithmen trainiert, die in einem winzigen Mikroprozessor innerhalb des Sensorgehäuses eingebettet sind, damit das System einen Sirenenton von anderen Geräuschen unterscheiden kann, die das Mikrofon einfängt. „Um die Algorithmen zu trainieren, haben wir sie mit mehr als 200 GB Audiodaten gefüttert. Wir haben Sirenentöne von verschiedenen Einsatzfahrzeugen aus diversen Ländern gesammelt, ebenso andere Hintergrundgeräusche wie Alarmsirenen, Fahrzeughupen und so weiter“, berichtet Andreas Merz. „So lernt die KI, die akustische Signatur jedes Geräusches zu erkennen und die nicht relevanten herauszufiltern.“ Ist eine Sirene identifiziert, wird diese Information an den Bordcomputer des Fahrzeugs weitergeleitet, um die angemessene Reaktion zu ermitteln, etwa die Fahrt zu verlangsamen oder die Spur zu wechseln. Zusätzlich könnte die Information über die erkannte Sirene in nicht- oder teilautonomen Fahrzeugen an den Fahrer weitergegeben werden.
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44.000 Minuten
Audiodaten (über 200 GB Datenvolumen) werden dem KI-Algorithmus zur Sirenenerkennung zugeführt. Das sind über 30 Tage (Tag und Nacht) Sirenentöne. Doch wichtiger als die Menge der Daten ist ihre Qualität: Zwei Minuten Audiodaten aus relevanten Messungen mit einem Einsatzfahrzeug hinter einer Wand oder einem Gebäude steigern den Lerneffekt des Algorithmus mehr als 30 Minuten Stille oder Vogelgezwitscher.
Die Möglichkeiten von AIoT ausschöpfen
Das Potenzial dieser KI-Technologie reicht weit über die Erkennung von Sirenentönen hinaus. Laut Andreas Merz wird das KI-System in der Lage sein, auch weitere Funktionen zu erlernen und Upgrades zu laden. Damit avanciert der Sensor zu einem echten AIoT-Gerät (Künstliche Intelligenz im Internet der Dinge). „So könnte das System zum Beispiel Sprachbefehle von außen verarbeiten, etwa ‚Kofferraum öffnen!‘. Oder der Sensor könnte geringfügige Änderungen der Straßenbedingungen oder in den mechanischen Systemen des Fahrzeugs erfassen“, führt er weiter aus. „Sogar einen Aufprallschaden kann der Sensor erkennen. Je näher wir den autonom fahrenden Autos auf unseren Straßen kommen, desto mehr werden wir von diesen akustischen Sensoren hören.“