Wie Künstliche Intelligenz die Industrie verändert
Im Gespräch mit dem KI-Experten und CEO von Landing AI
29.07.2021
Künstliche Intelligenz (KI) wird für die Industrie immer wichtiger. Doch viele Unternehmen wissen nicht, wie sie mit der Technologie umgehen sollen. Der Experte Andrew Ng erklärt, welche Möglichkeiten KI heute schon bietet und wie man dieses Potenzial richtig nutzt.
Mit Katzenbildern gelang Andrew Ng vor knapp zehn Jahren ein Durchbruch im Bereich der Künstlichen Intelligenz (KI). Der Professor für Computerwissenschaften an der US-Universität Stanford baute damals zusammen mit zwei Google-Mitarbeitern ein Computersystem aus rund 16 000 Prozessoren auf. Das Team fütterte dieses System so lange mit Bilddaten, bis es selbstständig Katzen und Menschen auf Fotos unterscheiden konnte. Das Projekt machte unter dem Namen „Google Brain“ weltweit Schlagzeilen und wurde zur Keimzelle der gleichnamigen KI-Abteilung von Google, deren Leitung Andrew Ng übernahm.
Jahre später beteiligte er sich an der Gründung von Coursera, einem der weltweit führenden Anbieter von Online-Lernkursen. Heute ist Ng der CEO des von ihm gegründeten Unternehmens Landing AI, das andere Unternehmen bei der Implementierung von industrieller KI berät und entsprechende Lösungen anbietet. Wenn Ng über Künstliche Intelligenz spricht, spürt man seine Begeisterung: „KI ist die neue Elektrizität“, sagt er. „Vor hundert Jahren hat die Elektrizität unzählige Industrien verändert, vor 20 Jahren dann das Internet. Künstliche Intelligenz wird dasselbe tun.”
Die nächste KI-Welle rollt bereits
Was Ng mit diesen Aussagen meint, wird bei einem Blick in die Geschichte deutlich. Als die Elektrifizierung vor hundert Jahren zunahm, erkannten viele Unternehmer zwar die transformative Kraft des Stroms, wussten aber nicht, wie sie diesen konkret für ihr Alltagsgeschäft nutzen sollten. Die Künstliche Intelligenz stellt Unternehmen heute vor eine ähnliche Herausforderung. „KI hat bereits die Software-Internetbranche verändert. Unternehmen wie Google, Facebook oder Amazon nutzen sie sehr effektiv. Aktuell beginnt die nächste Welle der KI”, sagt Ng. Diese wird auch alle anderen Industrien verändern – von der Fertigung über die Landwirtschaft und die Logistikbranche bis zum Gesundheitssektor. „KI ist keine punktuelle Lösung, sondern entfaltet eine viel breitere, transformative Wirkung. Aber ich beobachte, dass viele CEOs das noch nicht richtig verstanden haben“, erklärt Ng. Um das Potenzial der KI nutzen zu können, müssen Unternehmen zunächst verstehen, wozu aktuelle KI-Systeme imstande sind – und wozu nicht.
Was KI derzeit leisten kann
Bei der Künstlichen Intelligenz werden zwei Entwicklungsstufen unterschieden: Die „Artificial Narrow Intelligence“ (ANI) und die weitaus höher entwickelte „Artificial General Intelligence“ (AGI). Bei allen aktuell verfügbaren KI-Systemen handelt es sich um ANI. Dazu gehören auch scheinbar hochentwickelte Systeme wie Sprachassistenten oder selbstfahrende Autos. „Fast alle jüngeren Fortschritte der KI beruhen auf dieser Art von Algorithmen, bei denen Eingabedaten verwendet werden, um schnell eine einfache Antwort zu generieren. Der Fachbegriff für die Entwicklung dieser Algorithmen lautet ‚überwachtes Lernen‘”, sagt Ng. Solche KI-Systeme eignen sich nur für Tätigkeitsbereiche, die klar eingegrenzt sind, etwa Chatbots, die auf Datenbanken mit typischen Fragen und Antworten zu einem bestimmten Thema zurückgreifen.
Um einen Eindruck davon zu bekommen, welche Aufgaben heutige KI-Technologien bewältigen können, empfiehlt Ng folgende Faustformel: „Wenn ein durchschnittlicher Mensch eine Aufgabe nach einer Sekunde kognitiver Arbeit erledigen kann, können wir sie wahrscheinlich jetzt oder in naher Zukunft mit ANI automatisieren.“ Artificial General Intelligence hingegen existiert noch gar nicht. Sie gilt erst dann als erreicht, wenn KI-Systeme intellektuelle Aufgaben lösen, die mit dem kognitiven menschlichen Denken vergleichbar sind. Ein Beispiel dafür wäre ein Roboter, der Schach spielen, im Supermarkt einkaufen und eine Unterhaltung über beliebig gewählte Themen führen kann – und zwar nahtlos hintereinander wie ein Mensch. Bis dahin ist es noch ein langer Weg: „Es mag Durchbrüche geben, die höhere Stufen der künstlichen Intelligenz ermöglichen, aber bislang gibt es noch keinen klaren Weg zu diesem Ziel“, so Ng.
KI vereinfacht die Automatisierung
Vorerst werden Roboter, die wie Menschen denken können, also Science-Fiction bleiben. Dennoch lässt sich Künstliche Intelligenz bereits heute in vielen Bereichen nutzen, etwa in der Fertigung. „KI ist Automatisierung auf Steroiden”, sagt Ng. „Nehmen Sie beispielsweise die visuelle Qualitätskontrolle von Smartphones. Vor einigen Jahren mussten Menschen die Produkte auf Kratzer kontrollieren, Maschinen konnten das damals nicht leisten. Heute können wir diese Aufgabe durch KI-Bildverarbeitungssysteme automatisiert, systematisch und zuverlässig erledigen lassen.“
Künstliche Intelligenz hilft aber auch dabei, treibstoffsparende Routen für die Logistik zu berechnen, datenbasierte Bedarfsprognosen für das Lieferkettenmanagement zu erstellen oder den optimalen Zeitpunkt für Wartungsarbeiten an Fertigungsmaschinen zu planen. „Wenn in Ihrer Branche eine große Menge an Daten generiert wird, besteht eine hohe Chance, dass man aus diesen Daten mittels KI einen konkreten Nutzen ziehen kann”, sagt Ng. Auch in vernetzten Maschinen oder Geräten kommt Künstliche Intelligenz vermehrt zum Einsatz. Dadurch entsteht eine Artificial Intelligence of Things (AIoT), die nicht nur Daten sammelt, sondern diese auch direkt an der Quelle analysiert und daraus in Echtzeit Schlussfolgerungen zieht. So unterstützen beispielsweise AIoT-Sensoren dabei, den Energieverbrauch eines Werkes oder Fertigungsprozesse zu optimieren.
Wie die Industrie mit KI richtig umgeht
Bei der Integration von Künstlicher Intelligenz in die Fertigung tun sich viele Industrieunternehmen aber noch schwer. Anders als die Internetkonzerne aus dem Silicon Valley verfügen sie meist nicht über riesige Datenbestände, durch die KI-Modelle schnelle Fortschritte erzielen könnten. „Darüber hinaus hat jede Produktionsstätte ein eigenes Design und benötigt individuell zugeschnittene KI-Lösungen“, sagt Ng. Ein Unternehmen mit mehreren tausend Fertigungsanlagen benötigt entsprechend viele KI-Modelle. Um diese zu erstellen, braucht es wiederum KI-Experten, von denen es aktuell zu wenige gibt. Die Lösung für diese Herausforderungen sieht Ng in KI-Plattformen und Software-Tools, mit denen die bereits vorhandenen Fertigungs- und IT-Fachkräfte in den Unternehmen eigene KI-Modelle erstellen können.
Zugleich warnt er vor zu hohen Erwartungen: „Selbst wenn ein Projekt eine Proof-of-Concept-Demo erfolgreich abschließt, muss noch eine Menge Arbeit getan werden – beispielsweise die Erstellung der zugehörigen Software – um das KI-System in der Produktion einsetzen zu können.” Deshalb empfiehlt er Unternehmen, die Stelle eines Chief Artificial Intelligence Officers (CAIO) zu schaffen: „Das bringt den Vorteil, dass jemand sicherstellt, dass KI über Silos hinweg angewendet wird. Durch ein dediziertes KI-Team ist es außerdem eher möglich, neue KI-Talente zu gewinnen und Standards einzuhalten.“ Angesichts der transformativen Kraft von Künstlicher Intelligenz sollten sich Unternehmen rechtzeitig damit beschäftigen. Denn ebenso wie Elektrizität vor hundert Jahren vieles verändert hat, wird auch Künstliche Intelligenz in Zukunft nicht mehr aus dem Fertigungsalltag wegzudenken sein, sagt Andrew Ng.
Andrew Ng, 45
KI-Experte und CEO von Landing AI
„KI hält in immer mehr Branchen Einzug. Sie wird unzählige Leben verbessern und massives Wirtschaftswachstum generieren.“
Andrew Ng wuchs in Hongkong und Singapur auf. Er studierte Informatik in den USA; zunächst an der Carnegie Mellon University in Pittsburgh und später am Massachusetts Institute of Technology in Cambridge, das er 1998 mit einem Master-Abschluss verließ. Fünf Jahre später promovierte er an der University of California, Berkeley (USA), mit einer Dissertation zu Reinforcement Learning. Anschließend lehrte er als Professor an der US-Universität Stanford zu Künstlicher Intelligenz und betreute verschiedene KI-Forschungsprojekte. Ab 2011 war er einer der Leiter des Google Brain Projekts und wechselte 2014 zum chinesischen Technologiekonzern Baidu, wo er als Vizepräsident und Leiter der KI-Gruppe tätig war. Im Jahr 2012 war er zudem an der Gründung der Online-Lernplattform Coursera beteiligt. Seit 2017 ist Andrew Ng der CEO des von ihm gegründeten Unternehmens Landing AI. Dieses unterstützt Kunden bei der Implementierung von KI-basierten Lösungen für die visuelle Inspektion mittels einer End-to-End-MLOps-Plattform (Machine Learning Operations). Daneben ist Ng außerplanmäßiger Professor an der Universität Stanford.
Fazit
Künstliche Intelligenz dringt in immer mehr Branchen vor, sagt Andrew Ng. Aktuelle KI-Systeme arbeiten zwar technisch noch in engen Grenzen, dennoch sind sie wichtige Treiber der Automatisierung. Unternehmen sollten sich mit dem transformativen Potenzial der KI beschäftigen und dieses in ihrer Strategie berücksichtigen.