Maßnahmen gegen Luftverschmutzung: Aufatmen in der Brixton Road
Wie kann die Luftqualität in Städten verbessert werden? Eine innovative Technologie von Bosch hilft, das herauszufinden. Sie ermöglicht eine präzise Analyse der aktuellen und zu erwartenden Schadstoffbelastung – und damit gezielte Maßnahmen zur Verbesserung des Verkehrsflusses und der Luftqualität. So wie im Süden von London.
Fast so wie die Wettervorhersage
„Plus zwei Grad und leichte Schauer.“ Wenn so die Vorhersage für den Tag lautet, steht die Maßnahme gegen das Mistwetter fest – warm anziehen und den Regenschirm einpacken. Nach einem ähnlichen Prinzip funktionieren die Prognosen, die auf Basis einer Messsensorik von Bosch-Mitarbeiterin Dr. Maria Martínez Prada und ihren Kollegen erstellt werden. Ihre Schaubilder verraten jedoch mehr als die Großwetterlage: Aus ihnen lässt sich ein Plan gegen Luftverschmutzung ableiten – und damit die Lebensqualität in Städten verbessern. Denn während sich das Wetter üblicherweise nicht beeinflussen lässt, klappt das bei der Umweltbelastung durchaus.
Beispiel London: Die Metropole hat viel Flair – aber leider auch ein Problem mit Stickstoffdioxid (NO₂), unter anderem in der Brixton Road. An der größtenteils zweispurigen Straße im Süden der Stadt werden die EU-weit gültigen Grenzwerte von 40 Mikrogramm NO₂ pro Kubikmeter Luft regelmäßig überschritten. Eine Partnerschaft zwischen der Verkehrsbehörde Transport for London (TfL) und der Bosch Connectory, einem Entwicklungszentrum für Internet of Things (IoT)-Lösungen, soll das ändern. Ihr Ziel ist es, den Verkehr an der Brixton Road zu optimieren und dadurch die verkehrsbedingten Emissionen zu senken. Eine zentrale Rolle spielt dabei eine Innovation namens Air Quality Solution.
Präzise Abbildungen als Grundlage für Veränderungen
In einem etwa vier Quadratkilometer großen Gebiet der Brixton Road ist die Technologie von Bosch im Einsatz. Sie soll helfen, die verkehrsbedingte Umweltbelastung zu analysieren und ihre Ausbreitung vorherzusagen. Denn erst wenn man durchschaut, was genau die Gründe für Luftverschmutzung sind, wie sie sich ausbreitet und im Laufe eines Tages verändert, kann man sie gezielt bekämpfen.
Die Eckpfeiler des Londoner Projekts bilden 17 Messstationen von Bosch, sogenannte Immission Monitoring Boxes (IMB). In den 60 Zentimeter hohen und 40 Zentimeter breiten Boxen sind neben verschiedenen Gas- und Partikelsensoren auch Feuchte-, Temperatur und Drucksensoren verbaut. „Sie messen unter anderem die Werte für Stickstoffdioxid, Feinstaub, die Luftfeuchtigkeit und Umgebungstemperatur“, erklärt Martínez Prada, die ihre Doktorarbeit im Bereich der Sensorik geschrieben hat. Diese Daten werden in die Cloud von Bosch übertragen – in das Denkzentrum der Air Quality Solution.
So misst und verarbeitet Air Quality Solution die Daten
In der Cloud werden die gemessenen Werte mit weiteren Datensätzen, zum Beispiel zum Verkehrsaufkommen, in Zusammenhang gebracht. Denn wie der Name schon sagt, ermitteln die Immission Monitoring Boxes die sogenannten Immissionen. Während man unter Emissionen den Ausstoß von Schadstoffen in die Umwelt versteht – beispielsweise den Stickoxidausstoß eines Autos – bezeichnen die Immissionen deren unterschiedliche Ansammlung in der Umwelt.
Ausgestoßene Feinstaubpartikel beispielsweise lagern sich nicht überall gleich stark ab. Sie bleiben zum Teil am Boden haften, werden vom Wind verweht oder vom Regen weggespült. Die Messstationen erfassen den Teil der Emissionen, der sich – aus verschiedenen Quellen stammend – als Immission an besonders belasteten Stellen ansammelt.
Datenfutter für die KI
Da Emissionen aller möglichen Verursacher erfasst werden, können die gemessenen Immissionswerte nicht direkt auf eine einzelne Quelle zurückgeführt werden. Um diese Zuordnung dennoch zu ermöglichen, werden für die Berechnungen in der Cloud weitere Informationen hinzugezogen: beispielsweise Daten zum Verkehrsfluss und dessen Dynamik. Sie stammen vom Bosch-Partnerunternehmen Here Technologies, das diese Daten unter anderem aus Navigationsdiensten von Autos bezieht. Der Online-Geodatendienst speist die Daten anonymisiert ein. Die Verkehrsbehörde TfL steuert außerdem Informationen zur Ampelschaltung und zu Fahrzeugtypen bei. Weil Bosch über großes Know-how zu den Antriebstechnologien verschiedener Fahrzeuge verfügt, kann aus den Informationen zu den Fahrzeugen der Anteil der verkehrsbedingten Schadstoffe modelliert werden. Zudem fließen Satellitendaten zu meteorologischen Einflüssen sowie von der Stadt bereitgestellte Informationen zu Gebäude-Topologien in die Berechnungen ein. Die gesamten Daten werden im Rahmen einer Ausbreitungs-Simulation in Schaubilder übersetzt.
Für die Prognose der zukünftigen Schadstoffbelastung kommt ein Algorithmus auf Basis künstlicher Intelligenz zum Einsatz. Der Algorithmus wurde durch maschinelles Lernen erstellt: Er geht von historischen Daten einzelner Messstationen aus den vergangenen zwei Jahren aus und ermittelt auf dieser Basis, welchen Einfluss bestimmte Wetterlagen, Verkehrsstoßzeiten, Wochentage oder Großveranstaltungen typischerweise auf die Immissionswerte in einem Gebiet haben. Aus der Kombination der früher beobachteten Zusammenhänge und der Messdaten der Boxen errechnet die KI Prognosen, wie sich verkehrsbedingte Schadstoffe in Abhängigkeit zum Beispiel von der Wetterlage auf die künftige Luftqualität auswirken. Auf dieser Basis ist es möglich, rechtzeitig in die Verkehrssteuerung einzugreifen.
Um 20 %
konnten die Emissionswerte durch Verkehrsmaßnahmen bei vergleichbaren Projekten gesenkt werden.
So schafft Air Quality Solution konkrete Verbesserungen
Was das genau bedeutet, erklärt Martínez Prada anhand konkreter Beispiele vor einem großen Screen: „Mit Hilfe der gewonnenen Daten kann man genau erkennen, wie stark der Verkehr zur lokalen Luftverschmutzung beiträgt. Das machen wir, indem wir beispielsweise die Emissionen während der Rushhour an einem Werktag mit Daten vom Wochenende vergleichen, oder die Folgen einer Schlechtwetter-Periode für die Feinstaubwerte. So lässt sich sogar vorhersagen, welche Auswirkungen ein leichter Ostwind auf die Belastungen haben wird.“ Die präzisen Vorhersagen sind das Ergebnis einer vielseitigen Expertise von Bosch:
Im Unternehmen ist reichlich Wissen zu Messsensorik vorhanden, jahrzehntelange Erfahrung mit den Emissionswerten von Fahrzeugmotoren – und das Know-how, Daten mithilfe von KI zu verarbeiten. Wie wirkt sich das nun auf den Alltag der Menschen in der Brixton Road aus? Hier spielt die TfL eine wesentliche Rolle. Denn dank Air Quality Solution kann die Behörde in jeder Situation zielführend entscheiden, ob Umleitungen, veränderte Ampelschaltungen oder andere Maßnahmen besser geeignet sind, um den Verkehrsfluss zu optimieren und dadurch die Luftqualität zu verbessern.
London ist nur der Anfang
Das exakte Monitoring der Luftqualität kann zum Beispiel auch gezielt an Schulen und Kindergärten eingesetzt werden. Auf Basis der Echtzeiterhebung und Prognose von Schadstoffbelastungen in der Luft können Aktivitäten im Freien wie der Sportunterricht besser geplant werden. Der wachsende Markt für sogenannte smarte Stadtquartiere – in denen verschiedene Daten zu intelligenten Lösungen vernetzt werden – profitiert mit zusätzlichen Anwendungen. Beispielsweise kann die Belüftungsanlage eines Gebäudes über die Messergebnisse der Bosch-Boxen gesteuert werden: Besagen die Werte, dass im Sommer die Luftqualität draußen besser ist als drinnen, werden automatisch die Fenster geöffnet und die energieintensive Belüftung ausgeschaltet – so wird Energie und CO₂ gespart.
Im Focus
Dr. Maria Martínez Prada
Teilprojektleiterin bei Bosch Powertrain Solutions
Im Team haben wir eine innovative Technologie entwickelt, mit der wir ein globales Problem besser in den Griff bekommen: Die Luftverschmutzung in Großstädten. Das macht mich stolz.
Das Projekt in London ist für Dr. Maria Martínez Prada eine Herzensangelegenheit. Sie wechselte im März 2019 in die Entwicklung von Air Quality Solutions. Davor war sie Teamleiterin für die chemische Sensorik in der Forschung bei Bosch in Renningen. In ihrer Freizeit spielt sie gern Tennis.