Mehr Anreize, weniger Zwang
Warum der erhobene Zeigefinger allein dem Klimaschutz nicht hilft
25.10.2023
Man nannte ihn den Roten Teufel: Der belgische Rennfahrer Camille Jenatzy erreichte 1899 als erster Autofahrer überhaupt die 100-Kilometer-pro-Stunde-Marke – mit seinem roten Spitzbart im Wind und in einem Auto, das aussah wie eine Stahlzigarre auf vier Rädern. Das soll hier nicht erwähnt sein, weil Monsieur Jenatzy auch Werbung für Bosch gemacht hat. Sondern weil er seinem Fahrzeug einen Namen gegeben hat, der das Wesen der Mobilität auf den Punkt bringt. Es hieß La Jamais Contente – also „Die niemals Zufriedene“.
von Stefan Hartung
Kaum etwas hat seit Tausenden von Jahren so viel Kraft entfaltet wie das menschliche Streben nach Veränderung. Das gilt für die geographische Mobilität ebenso wie für die geistige Beweglichkeit. Zu den wichtigsten Erfindungen zählen bekanntlich Rad, Boot, Dampfmaschine, natürlich auch das Auto – also alles, was uns die Fortbewegung unmittelbar erleichtert hat. Andere wichtige Innovationen bringen zwar nicht Menschen, dafür aber Wissen und Nachrichten von einem Ort zum anderen: Das reicht von der Schrift über die Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen (!) Lettern bis hin zum Radio und natürlich zum Internet.
Erst die allmähliche Überwindung des Raumes durch Technik hat die Grundlagen für unsere moderne Welt geschaffen. Mittlerweile aber haben wir diesen grundsätzlichen und lebenswichtigen Aspekt der Mobilität ein wenig aus den Augen verloren: Angesichts der epochalen Herausforderung durch den Klimawandel wird die individuelle Mobilität häufig einfach nur schlechtgeredet, ideologischer Eifer ersetzt mancherorts die Beschäftigung mit wirtschaftlichen, technischen und sozialen Fakten.
Dabei bestreitet kaum noch jemand, dass der Klimawandel eine neue, nachhaltige und emissionsfreie Mobilität zwingend erfordert. Die Vorleistungen, die derzeit von weiten Teilen der Wirtschaft und Gesellschaft für diese grüne Transformation erbracht werden, sind beachtlich, teils sogar am Rande des Leistbaren. Und doch werden die Rufe nach Verboten und Vorgaben zunehmend lauter und radikaler. Vor allem aber geht es dabei schon längst nicht mehr nur um die Mobilität allein: Im Namen des Klimas werden immer mehr Gewohnheiten, von der Ernährung bis zum Reiseverhalten, nicht nur in Frage, sondern in Abrede gestellt.
In der Folge ideologisiert sich die Debatte um die Bekämpfung des Klimawandels zunehmend. Das ist keine gute Entwicklung – weder für die Umwelt noch für die Demokratie. Eine neulich von der TU Dresden vorgelegte Studie zur „Polarisierung in Deutschland und Europa“ hat gezeigt, dass kaum ein anderes Thema derart hohe Empörungswellen hervorrufen kann wie der Klimawandel. Eine wie auch immer abweichende Meinung wird hier schneller persönlich genommen als bei vielen anderen aktuell kontrovers diskutierten Fragen.
Ich halte das für besorgniserregend. Gerade diese emotional hochaufgeladenen Themen schaffen einen Nährboden für Populismus. Wer sich von Gefühlen statt von Fakten leiten lässt, läuft meist dahin, wo am lautesten geschrien wird. Das ist bei vielen Debatten ärgerlich – beim Klimawandel aber ist es besonders fatal. Denn wenn etwa eine Minderheit von Aktivisten glaubt, den Klimawandel nur durch Sitzblockaden aufhalten zu können, erreicht sie damit vor allem, dass weite Teile der Bevölkerung das Thema zunehmend mit Unmut, Stillstand und Konfrontation verbinden – und nicht mit der eigentlich gebotenen Veränderungsbereitschaft.
Dabei geht die gefährliche Tendenz zur Emotionalisierung allerdings auch von denjenigen aus, die den Klimawandel für eine neumodische Lappalie halten. Nostalgie ist ebenso lähmend wie Ideologie. Zumal doch klar sein sollte, dass wir uns eine Mobilität ohne Einschränkungen – und damit eine freie Gesellschaft – auf Dauer nur leisten können, wenn sie ohne negative Auswirkungen auf unsere Lebensgrundlagen bleibt. Wir brauchen die nachhaltige Mobilität also nicht nur, weil wir umweltgerecht und klimabewusst handeln wollen. Wir brauchen sie vielmehr auch, um unser Leben auch in Zukunft noch individuell und unabhängig gestalten zu können. Schließlich bewegen wir uns ja nicht nur, weil wir müssen. Sondern weil wir neugierig sind. Weil wir den Wunsch nach Wachstum und Wohlstand in uns spüren. Weil wir frei und unabhängig sein wollen. Eben nie zufrieden – jamais contente.
Wer das vergisst, wird die Menschen nicht für den Klimaschutz gewinnen können. Eine nachhaltige Wirtschaft entsteht nicht durch Verordnung oder Wunschdenken. Sondern durch Investitionen. In unsere Infrastruktur, in unser Bildungssystem, in unsere Technik. Staat, Wirtschaft und Gesellschaft müssen dabei an einem Strang ziehen. Denn wenn wir etwa bei Bosch eine neue Software entwickeln, mit der sich die Batterieladezeit bei Elektroautos um zwanzig Prozent verkürzen lässt, dann wird das dem Klima erst helfen, wenn ausreichend grüner Strom zur Verfügung steht. Und auch nur dann, wenn den Menschen so viel Geld übrigbleibt, dass sie sich moderne Technologien noch leisten können.
Das ist ein anspruchsvolles Ziel. Eine in sich gespaltene Gesellschaft wird es verfehlen. Wir sollten also den erhobenen Zeigefinger wieder einklappen und zu einer sachlichen, vorurteilsfreien Debatte zurückkehren. Die Agenda darf nicht von Angstmachern und Ideologen bestimmt werden, sondern braucht die breite Mitte der Gesellschaft. Für einen erfolgreichen Klimaschutz müssen wir offener, neugieriger und vor allem zuversichtlicher an die Herausforderungen herangehen. So wie Camille Jenatzy, der sich damals mutig in seine silberne Rennzigarre quetschte und ein ganz neues Tempo vorlegte. Angetrieben wurde sein Auto übrigens von einer Batterie. Wir sehen also: Nur wer in Visionen statt in Verboten denkt, kann seiner Zeit wirklich voraus sein.
Dieser Artikel erschien zuerst in der Zeitung WELT.