Smart Grids: Intelligente Stromnetze der Zukunft
Im Gespräch mit dem Vorstandsvorsitzenden von EWE
20.07.2021
Erneuerbare Energie macht die Stromversorgung nachhaltiger, aber auch komplexer. Stefan Dohler, Vorstandsvorsitzender der EWE AG, einer der größten deutschen Energiedienstleister, erklärt, welche Rolle intelligente Netze, Daten und Wasserstoff im Energiesystem der Zukunft spielen.
Weltweit stehen Energiedienstleister vor großen Herausforderungen. Der globale Energiebedarf hat sich seit den 1950er Jahren verzehnfacht und wächst stetig weiter. Der Klimawandel zwingt nicht nur zu einem effizienteren, bewussteren Umgang mit Energie, sondern auch zu einer Umstellung – weg von fossilen Brennstoffen, hin zu erneuerbaren Energiequellen. „Was wir in 200 Jahren Industrialisierung aufgebaut haben, wollen wir nun innerhalb kürzester Zeit umgestalten“, sagt Stefan Dohler. Er ist der Vorstandsvorsitzende der EWE AG, einem Dienstleistungsunternehmen aus Niedersachsen, das Strom, Erdgas und Telekommunikationsdienste anbietet.
EWE hat erreicht, was viele Energieunternehmen erst umsetzen wollen: Der Strom in seinen Versorgungsnetzen stammt zu 95 Prozent aus erneuerbaren Energiequellen. „Wir sind der transformativen Welle um zehn Jahre voraus”, sagt Dohler. „Auf dem Weg dorthin mussten wir Herausforderungen bewältigen, die in ein paar Jahren auf jedes Unternehmen am Markt zukommen.“ Bis 2035 will EWE klimaneutral sein – 15 Jahre früher, als es die Klimaziele der Europäischen Union, der USA und anderer Länder vorgeben. „Dies ist die wichtigste Aufgabe unserer Generation und ich denke, dass wir sie unseren Kindern und Enkeln zuliebe angehen müssen“, so Dohler.
95 Prozent
des Stroms in den Versorgungsnetzen von EWE stammt aus erneuerbaren Energien. Damit zählt das Unternehmen europaweit zu den Vorreitern der Energiewende.
Mehrere Millionen Kraftwerke
Die Nähe zur Nordsee ist für EWE ein Vorteil, der die schnelle Umstellung auf erneuerbare Energien begünstigt hat: „Unser Unternehmen befindet sich in einem windreichen Gebiet, wir haben eine Küste in der Nähe, wodurch wir große Energiemengen von Offshore-Windparks beziehen können, und wir verfügen über viele unterirdische Speicher mit langfristigen Kapazitäten“, erklärt Dohler. Doch ein guter Standort allein ist kein Selbstläufer. Die einzelnen Komponenten müssen auch zu einem zuverlässigen System verbunden werden – und es werden immer mehr.
„Lange Zeit haben etwa hundert große Kraftwerke die Netze mit Energie versorgt. Das wird sich in Zukunft ändern. Es wird Millionen von Kraftwerken geben – in Form von Windparks oder Solaranlagen gibt es sie bereits heute“, sagt Dohler. Auch die Rolle von Endkundinnen und Endkunden wird sich ändern. Dohler bezeichnet sie in diesem Zusammenhang als „Prosumer” – ein Mischwort aus den englischen Begriffen „consumer” und „producer“.
Ein Prosumer bezieht nicht nur Strom, sondern erzeugt ihn auch selbst – etwa durch Solaranlagen – und speist ihn in das öffentliche Netz ein. Schätzungen gehen davon aus, dass Prosumers künftig bis zu 20 Prozent der Stromproduktion in Deutschland übernehmen. Dadurch wird der Energiemarkt dezentraler und die Versorgung mit erneuerbaren Energien stabiler. Zugleich wird die Energieinfrastruktur dadurch auch komplexer, wodurch sie schwieriger und nur noch hoch automatisiert und algorithmisch zu steuern ist.
Wasserstoff als Energieträger
Ein weiterer Faktor, der bei der Energieversorgung künftig eine große Rolle spielt, ist die Wetterabhängigkeit der erneuerbaren Energiequellen. Solaranlagen etwa erzeugen an sonnigen Tagen meist mehr Strom, als das Netz aufnehmen kann, während sie an bewölkten Tagen kaum Strom liefern. Um solche Versorgungsschwankungen auszugleichen, werden Energieüberschüsse beispielsweise in Pumpspeicherkraftwerken oder in großen Batterien gespeichert und bei Bedarf abgerufen. In Deutschland können damit zwar kurzfristige Einbrüche bei der Energieversorgung überbrückt werden, für längere Wetterphasen ohne ausreichend Sonne und Wind braucht es aber eine andere Lösung.
„Wasserstoff ist der einzige Weg, um das gesamte Energiesystem mit langfristigen Speichermöglichkeiten auf der Basis von sauberem Gas auszubalancieren“, sagt Dohler. Wasserstoff lässt sich nachhaltig aus Wasser und grünem Strom herstellen und kann durch Brennstoffzellen wieder in Elektrizität umgewandelt werden. In einem Projekt im brandenburgischen Rüdersdorf testet EWE derzeit die Lagerung von Wasserstoff in Kavernen, künstlich angelegten Hohlräumen unter der Erde. Auf diese Weise ließe sich Energie in Form von Wasserstoff langfristig speichern.
Ohne intelligente Netze geht es nicht
Die steigende Zahl der Kraftwerke und das volatile Stromangebot machen die Steuerung der Versorgungsnetze sehr komplex. „Das Energiesystem der Zukunft wird sehr dezentral sein, und kein Mensch kann das steuern, ausgleichen oder optimieren“, sagt Dohler. Deshalb werden die Netze zu „Smart Grids“ umgebaut, zu intelligenten Verteilsystemen, die Energie- und Datenströme selbständig verarbeiten und die Stromerzeugung sowie den Verbrauch automatisiert aufeinander abstimmen. „Dies erfordert einen massiven Einsatz von smarten Technologien und die Künstliche Intelligenz der Dinge (AIoT) ist hierfür bestens geeignet“, so Dohler.
AIoT entsteht, wenn Künstliche Intelligenz (AI) in vernetzte Geräte und Anlagen integriert wird, die an das Internet der Dinge (IoT) angeschlossen sind. Durch AIoT erfassen einzelne Geräte beispielsweise den Energieverbrauch eines Fertigungswerkes, kalkulieren ihn für die kommenden Wochen voraus und können so das Energiemanagement intelligent steuern.
Um entsprechende Lösungen entwickeln zu können, müssen Energieversorger mit Technologiepartnern zusammenarbeiten, die über Know-how in den Bereichen Sensorik, Aktorik, Künstliche Intelligenz und Datenmanagement verfügen. „Die Zeiten, in denen manche Versorgungsunternehmen alles selbst machen konnten, sind vorbei. Heute wollen wir gute Partnerschaften mit Unternehmen wie Bosch eingehen“, sagt Dohler.
Den Datenschatz nutzen
Durch die Digitalisierung entstehen in den Energienetzen zahlreiche Daten – von der Stromerzeugung über die Einspeisung bis zum Smart Metering. „Es ist möglich, so detaillierte Zählerdaten abzurufen, dass sich daran erkennen ließe, welches Fernsehprogramm in einem Haushalt angesehen wird”, erklärt Dohler. Aber: Auch wenn das technisch möglich ist, werden die Daten selbstverständlich anonymisiert verarbeitet. Netzbetreiber nutzen sie, um die Versorgung zu optimieren und neue Produkte und Dienstleistungen zu entwickeln.
EWE hat beispielsweise eine Software entwickelt, die Verkehrsflüsse von Elektrofahrzeugen sowie das Ladeverhalten auswertet. Diese Daten werden genutzt, um effizientere Standortentscheidungen für den Bau von Ladesäulen zu treffen. Daten zum Energieverbrauch können auch zur Umsetzung von Klimazielen beitragen: „Zum Beispiel bei dem Taxonomie-Ansatz der EU, alles am CO₂-Fußabdruck zu messen“, sagt Dohler. EWE bietet eine App, mit der Unternehmen oder Einzelpersonen ihren CO₂-Fußabdruck messen können. Das soll nachhaltigeres Verhalten unterstützen.
Transformation setzt den Willen dazu voraus
Stefan Dohler geht davon aus, dass Deutschland bis zum Jahr 2030 den Großteil seines Strombedarfs aus erneuerbaren Energiequellen decken kann. Dies ist jedoch von zwei Faktoren abhängig: Erstens wird Deutschland, das aktuell 70 Prozent seiner benötigten Primärenergiemenge importiert, auch in Zukunft große Mengen grünen Stroms aus anderen Ländern beziehen müssen. Hierfür ist ein logistischer Kraftakt nötig, doch Dohler ist zuversichtlich: „Technisch ist es möglich und ich denke, es ist auch bezahlbar“, sagt er.
Zweitens muss die Infrastruktur für erneuerbare Energien weiter ausgebaut werden, was in Teilen der Bevölkerung jedoch nicht immer akzeptiert wird, wenn es etwa um den Bau von Windkraftanlagen geht. „Wer eine klimaneutrale Welt haben möchte, muss auch die dafür notwendige Infrastruktur akzeptieren“, sagt Dohler. Wie schnell die Umstellung auf eine klimafreundliche Energieversorgung gelingt, hängt also nicht nur von politischen Entscheidungen ab, sondern auch von der Einstellung jeder einzelnen Person.
Stefan Dohler, 55
Vorstandsvorsitzender der EWE AG
In Anbetracht der Transformation, die wir vor uns haben, müssen wir sicherstellen, dass das ganze System funktioniert.
Stefan Dohler ist gelernter Seemann sowie Diplom-Ingenieur für Luft- und Raumfahrttechnik und Master of Business Administration. In seinen ersten Berufsjahren arbeitete er für eine Schiffswerft und ein Ingenieurunternehmen, ehe er 1998 zum Hamburger Energieversorger HEW wechselte, einem Vorgängerunternehmen der Vattenfall GmbH. Dort übernahm er mehrere Führungspositionen in den Bereichen Finance, Networks, Production und Markets. Im Jahr 2012 wurde Stefan Dohler Mitglied des Executive Management Teams der Vattenfall-Gruppe und vier Jahre später Konzern-Finanzvorstand (CFO). Seit 2017 ist er Vorstandsvorsitzender der EWE AG, die ihren Sitz in Oldenburg hat.
Fazit
Das Energienetz der Zukunft ist digitalisiert und dezentral aufgestellt. Um die zahlreichen Energieströme zu steuern, braucht es smarte Lösungen auf der Basis von Künstlicher Intelligenz, sagt Stefan Dohler. Die dabei entstehenden Daten lassen sich zur Optimierung der Netze nutzen. Wasserstoff wird als Energiespeicher eine wichtige Rolle spielen.