Vom Hinterhofbetrieb zum globalen Fertigungsverbund
Industrielle Vernetzung am Beispiel Bosch
Als Robert Bosch seine „Werkstätte für Feinmechanik und Elektrotechnik“ im November 1886 in Stuttgart gründete, war die industrielle Revolution schon zur Reife gediehen.
Vor über 130 Jahre – Boschs harte frühe Jahre
Voll Zuversicht durch seine Arbeit bei Edison Machine Works in New York, versuchte er, mit modernsten Produkten, etwa Telefonen oder Personenrufanlagen, in seiner Wahlheimat Stuttgart ein erfolgreiches Geschäft aufzubauen. Aber der Wettstreit mit Dutzenden anderer kleiner Hinterhofwerkstätten in Stuttgart war ein hartes Brot, die Begeisterung der Kunden für Neuartiges blieb verhalten. Bosch konnte bei seinen Aufträgen also nicht wählerisch sein. Er reparierte, wartete, konstruierte und baute, je nach dem, was seine Kunden bei ihm anfragten – solange es nur mit Feinmechanik oder Elektrotechnik zusammenhing.
Neben Telefon- und Personenrufanlagen waren das elektrische Klingeln, Türkontakte und Wasserstandsfernmelder, später auch Rohrpostanlagen und elektrische Beleuchtung für Häuser. Die Kundschaft war dabei sehr heterogen. So Mancher beauftragte ihn nur einmal, weil es für einen weiteren Auftrag keinen Bedarf gab. Vernetzung mit Kunden, geschweige denn mit Geschäftspartnern, lag also in weiter Ferne; das einzige Kontinuum war ein langfristiger Wartungsauftrag für medizintechnische Geräte mit insgesamt 21 Arztpraxen.
Einzelkämpfer
Bosch war also in der Gesamtsicht einer von vielen Einzelkämpfern – das pure Gegenteil von Vernetzung. Der Erfolg blieb wechselhaft und in den ersten zehn Jahren hinter seinen eigenen Erwartungen zurück. Nur um es mit Zahlen zu belegen: Bosch begann 1886 mit zwei Leuten, hatte Anfang der 1890er Jahre im schnellen Auf und Ab eine Belegschaft von zweitweise bis zu 20, die aber immer wieder abschmolz, wenn die Auftragslage sich längerfristig verschlechterte. Erst mit der magnetelektrischen Zündung für das Automobil, die Boschs Werkmeister Arnold Zähringer Mitte der 1880er Jahre aus der Zündung für Standmotoren weiterentwickelte und 1897 patentieren ließ, wendete sich das Blatt für das junge Unternehmen.
Mehr Unternehmer als Techniker. Bosch und sein Expertennetz
Robert Bosch wird in populärwissenschaftlichen Publikationen gern als „Tüftler“ oder „Erfinder“ apostrophiert. Auch wenn das zum Klischée des schwäbischen Unternehmers im deutschen Südwesten im 19. oder 20. Jahrhunderts passt; Robert Bosch gehörte dazu nicht, stritt das auch selbst stets ab und sah sich vornehmlich als Unternehmer. Das zeigt dieses Zitat aus den 1930er Jahren. "Man kann mir nachsagen, ich sei gar kein Erfinder, und ich mache auch gar keinen Anspruch auf diesen Titel.
Aber ich bin der Mann, der es fertiggebracht hat, durch Ausdauer, durch gutes Beispiel und durch richtige Behandlung meiner Mitarbeiter einen Betrieb aufzubauen, der einen guten Namen hat in der ganzen Welt. Ich verdanke nicht einen geringen Teil meines Erfolges meiner ausdauernden Gründlichkeit, die verhütete, daß etwas Schlechtes aus meiner Werkstatt hinausging."
Die Experten
Ein kritischer Rückblick kann das nur bestätigen. Im Erfinderischen lag weniger die Stärke als im Unternehmerischen. Robert Bosch nahm Ideen auf und setzte sie in erfolgversprechende Produkte um. Und die passenden Erfinder für die Entwicklung neuer Produkte fand er dank seiner Menschenkenntnis, ebenso wie die erfolgreichen Verkäufer, die Personalexperten für das wachsende Unternehmen und die Unterhändler im Ausland, die dem Unternehmen ab etwa 1900 eine schnelle internationale Entwicklung verschafften.
Beispiele dafür sind Gottlob Honold (1876-1923) und Gustav Klein (1874-1917). Honold war der erste Entwicklungschef bei Bosch. Er hatte eine Lehre als Feinmechaniker bei Bosch absolviert und dann in Esslingen Maschinenbau studiert. Bosch holte ihn zurück in seine Unternehmen, und Honold zeichnete dann bis zu seinem plötzlichen Tod - er starb an einer Lungenentzündung - für sämtliche innovativen Produkte von Bosch verantwortlich.
Der Star-Verkäufer
Gustav Klein hingegen war neben dem technischen Mastermind Honold eine Art Star-Verkäufer. Er pflegte einen extravaganten Lebensstil, zu dessen Ausprägungen auch ein Wasserflugzeug am Bootsliegeplatz seines Villengrundstücks am Bodensee gehörte. Robert Bosch, den wir eher als knauserig kennen, hielt einen solchen gegensätzlichen Charakter aus, er gab ihm sogar viel Spielraum. Der Erfolg gab Bosch recht, denn Kleins „Roadshow“ mit der Präsentation der Bosch-Magnetzündung bei allen wichtigen US-Autoherstellern endete mit einem immens großen Auftragsvolumen, dessen Umfang die Produktionskapazität bei Bosch bei Weitem überstieg. Bosch selbst sagte nach dem frühen Tod Kleins bei einem Flugzeugabsturz, ihn hätten selbst „Drei Andere“ nicht ersetzen können.
Mit Verantwortung tragenden Experten, Honold und Klein sind nur Beispiele, diversifizierte sich im Unternehmen die Expertise rasch, der Unternehmer Bosch war weniger denn je der „Universalunternehmer“ in Personalunion mit dem „Erfinder“, sondern der strategische Kopf in enger Abstimmung mit Entwicklung wie Verkauf.Er hatte sich das Umfeld geschaffen, das er für den Ausbau eines weltweit operierenden Unternehmens brauchte. Die nächste Aufgabe einer sinnvollen Weiterentwicklung der Vernetzung galt den Kunden weltweit, und das waren in der Mehrzahl Fahrzeughersteller.
Die Anfänge der Elektrotechnischen Fabrik: Internationale Bündnisse helfen
1887 baute Bosch den ersten Magnetzünder – damals noch für stationäre Anwendung. Bis 1897, als er den Zünder für die Verwendung in Motorfahrzeugen umkonstruierte, baute und verkaufte er ganze 1.000 Stück. Fünf Jahre nach dem Debüt seiner Zündung für das Auto, also im Jahr 1902 waren es 50.000, weitere zehn Jahre später schon insgesamt eine Million geworden. 40jährig, hatte er 1901 auch endlich seine erste eigene Fabrik bauen können, nachdem er zuvor Mieter zunehmend größerer Werkstätten gewesen war. Doch wie schafft es ein Unternehmen, dieses Wachstum zu erzeugen und zu steuern? Bosch musste sich mit Hilfe erfahrener Unternehmer Zugang zu internationalen Märkten verschaffen, er musste in Erfahrung bringen, welche Märkte interessant sind und welche Partner dort in Frage kommen. Das bedeutete auch die Abgabe von Verantwortung für regionale Märkte oder die enge Kooperation mit Partnern.
London und Paris
Die Entstehung der internationalen Präsenz war bei Bosch ein Prozess mit vielen Faktoren. Die beiden ersten Handelsniederlassungen in London (1898) und Paris (1899) waren Kooperationen mit dem britischen Partner Frederick Simms, dem der Verkauf von Bosch Magnetzündanlagen sehr lukrativ erschien, denn nicht in Deutschland, sondern in England und Frankreich wurde der Automobilismus erstmals zum Wachstumsmarkt. Und hier griff der auf beiden Märkten versierte Partner Simms ein – er war der Verkaufsexperte, und Bosch hatte das technologische Knowhow. Rund acht Jahre später gelang es Bosch, sich auf diesen Schlüsselmärkten selbstständig zu machen, allerdings nicht ohne dramatische Auseinandersetzungen und letztlich die Trennung vom Partner Simms, der nach dem Geschmack Robert Boschs doch zu sehr in die Unternehmenspolitik eingreifen wollte und sogar eine nach heutigen Maßstäben feindliche Übernahme der Elektrotechnischen Fabrik Bosch plante.
Durch einen Mittler aktiv zu werden, und dann direkt ohne den Mittler die Aktivitäten weiterzuentwickeln, das war auch das „Strickmuster“ der anderen frühen Auslandsaktivitäten, in Südamerika (Argentinien 1908, Brasilien 1910), in Asien (China 1909, Japan 1911), in Afrika (Südafrika 1906) und Australien (1907). Eine Ausnahme bildeten die USA, in der Bosch aufgrund der Größe des Marktes von vornherein auf eine eigene Gesellschaft setzte, die 1906 gegründete Bosch Magneto Company in New York. Von hier aus baute Bosch die Kundenverbindungen in den USA und Kanada auf und fertigte ab 1912 auch in den USA. Damit war ein ganz neuer Weg eingeschlagen, den Bosch aber im Laufe der folgenden Jahrzehnte nach und nach rund um die Absatzmärkte herum einführte: Dort zu fertigen, wo der Produktabsatz stattfindet.
Global vernetzt beim Kunden.
Ein Unternehmen, das in seiner Geschichte im Schnitt 60 bis 70 Prozent des Umsatzes mit Erstausrüstung für Kraftfahrzeuge machte, musste auch immer den Kunden folgen. Das ist ein Auslöser globaler Vernetzung nicht nur innerhalb des Unternehmens, sondern auch mit industriellen Partnern.
Es bedeutete nämlich, Gesellschaften dort zu gründen, wo auch Autos eines Zulieferkunden gefertigt wurden, und auch einem Kunden zu folgen, wenn dieser in ein neues Land ging, so etwa bei Bosch im Fall von VW in Brasilien.
Entwicklung international
Es bedeutete aber auch, regional technisch erforderliche Entwicklungen ins Unternehmen zu integrieren und ggf. zu globalisieren. Erstes Beispiel sind die in den 1960er Jahren absehbaren Emissionsgesetze in den USA. Diese erforderten die Entwicklung eines elektronisch gesteuerten Benzineinspritzsystems, was Bosch rasch umsetzte. Bereits früher, im Jahr 1959, waren erste Versuche dazu erfolgt. Die Nachfolger der 1967 auf den Markt gebrachten „Jetronic“ konnten sich nach dem Anfangserfolg in den USA auch international als Standardtechnologie durchsetzen. Ohne sie gäbe es heute keine Motorsteuerungen, die scharfe Umweltstandards wie die europäischen Abgasgesetze einhalten können.
Zweites Beispiel ist die Herausforderung in jüngerer Vergangenheit, die unterschiedlichen Anforderungen an Produkte in Schwellenländern in lokale Entwicklung und Applikation umzusetzen – mit dem Resultat von regionalen Produktentwicklungen, die dann wiederum Einfluss auf die technologische Entwicklung in den Märkten der „alten“ Industrienationen bekamen.
Simultaneous Engineering
Die weltweit gleichen Ansprüche der Kunden am Beispiel der Zulieferung an die Autoindustrie mündeten aber neben der Regionalisierung auch in eine weltweite Synchronisierung von Produkt- und Fertigungsentwicklung. Im Bosch „Simultaneous Engineering Center“ wurde dies 1999 erstmals im Bereich von Bremsregelsystemen wie dem ABS umgesetzt, so dass die Fertigung jeder neuen Produktgeneration nicht nur am bisherigen Standort der Pilotfertigung, in diesem Falle im süddeutschen Blaichach, sondern zeitgleich an Produktionsstandorten in den USA, Australien und Japan starten konnte.
Für diese Entwicklung war die Zeit definitiv gekommen, denn bis in die 1980er Jahre waren es im Erstausrüstungsgeschäft der Autoindustrie in der Regel Autobauer aus dem “Stammland“ Boschs, die Pilotkunden bei Innovationen waren, zuletzt Daimler beim ABS (1978) oder BMW bei digitalen Motorsteuerung Motronic (1979).
Versorgung vor Ort
Konnten diese als Pilotkunden noch bevorzugt mit den Komponenten aus in der Regel einem süddeutschen Produktionsstandort versorgt werden, so galt es ab spätestens Mitte 1980er Jahre zunehmend, internationale Hersteller wie die früheren „Big Three“ in den USA (General Motors, Ford und Chrysler) oder wie Toyota und Nissan in Japan mit Produkten 1) neuesten Standes 2) sofort nach Serienreife 3) aus Produktion vor Ort zu versorgen.
Die Kunden legten weltweit darauf Wert, zu den Ersten zu gehören, die die neuesten Technologien von Bosch in ihren Fahrzeugen einsetzten. Die internationalen Netzwerke hatten bei Bosch damit eine neue „globalisierte“ Dimension gewonnen, nicht nur aus dem Antrieb des Unternehmens, sondern auch infolge der „Sogwirkung“ der globalen Kundenbedürfnisse.
Vom Bosch Engineering System zu Industrie 4.0
Hier kommen wir in einen Bereich, der weniger die Vernetzung des Unternehmens Bosch intern und der mit ihm zusammenhängenden Akteure betrifft, als vielmehr die Entwicklung von Technologien im Unternehmen, die die Vernetzung von Systemen und Strukturen in Industrie, Mobilität und privaten Haushalten zum Ziel haben. Es geht dabei im Kern um die Vernetzung der Dinge und die autarke Kommunikation von Maschinen, vielfach summiert in den Begriffen Industrie 4.0 und Web 3.0 unter der gemeinsamen Klammer des „Internets der Dinge und Dienste“.
Das eine betrifft die industrielle Produktion und beginnt gerade, zumindest in der Erprobung Realität zu werden: Das Interesse der Forscher und Entwickler gilt hier den „Cyber-Physical Systems“, intelligenten Maschinen, Lagersystemen und Betriebsmitteln, die mit Hilfe internetbasierter Kommunikation eigenständig Informationen austauschen, Aktionen auslösen und sich gegenseitig selbstständig steuern können. Das ermöglicht flexible Reaktionen, bis hin zur Berücksichtigung individueller Kundenwünsche und Einzelfertigung.
Milliarden vernetzte Geräte
Das andere betrifft die Entwicklung internetbasierter Lösungen zur autarken Kommunikation zwischen Maschinen bei Anwendungen für Endverbraucher, wie bei Industrie 4.0 ohne den direkten Eingriff des Menschen. Es geht dabei um ein großes potenzielles Geschäftsvolumen. Es gibt Milliarden Geräten weltweit, die eine IP-Adresse haben. Sie alle könnten über das Internet der Dinge und Dienste vernetzt werden – zum Beispiel Systeme in Autos,
die Daten über das Verkehrsaufkommen in ihrer Umgebung sammeln und sich gegenseitig über Staus informieren, oder aber autark arbeitende Notrufsysteme wie eCall. Die Erkenntnisse aus solchen Einzelprojekten fließen in die Weiterentwicklung vernetzter Systeme, die sich zu immer größeren Strukturen verbinden – bis hin zur „Connected City“, der vernetzten Stadt, in der die Infrastrukturen für Mobilität, Gesundheit, Energie und Kommunikation völlig ineinander verschmelzen.
Autor: Dietrich Kuhlgatz