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CEO-Blog

Warum Europa KI auf allerhöchstem Niveau braucht

Stefan Hartung steht vor einem Roboter mit künstlicher Intelligenz und einem futuristischen Datenpanel im Hintergrund.

24.04.2024

Als sich in diesen Tagen die Industrie der Welt in Hannover versammelt hat, waren die Hotels der Messestadt wie üblich ausgebucht. Aber wenn das in fünf oder zehn Jahren auch noch so sein soll, dann müssen wir uns anstrengen. Nicht, weil die Hannover Messe an Bedeutung verlieren wird. Sondern, weil die Besucher vielleicht lieber ihren digital twin oder ein Hologramm schicken werden, anstatt selbst anzureisen.

von Stefan Hartung

3D-Rendering einer Treppe und Darstellung von künstlicher Intelligenz.

Beim World Economic Forum in Davos sind neulich schon ein paar Teilnehmer in 3-D aufgetaucht – obwohl sie gar nicht im Raum waren. Und wenn wir uns ansehen, mit welchem Tempo die Künstliche Intelligenz voranschreitet – dann kann man sich den virtuellen Messebesuch schon ganz gut vorstellen. Denn mit KI wird das Undenkbare von gestern heute schon zur Vision für morgen.

Zugleich erleben wir einen erheblichen Gegensatz zwischen einer politisch und wirtschaftlich angespannten Weltlage auf der einen Seite und einer ungeheuren technologischen Dynamik auf der anderen Seite. Dabei wird leicht übersehen, dass es auf lange Sicht vor allem die KI sein wird, die unsere Welt fundamental verändern wird – mehr noch als jene Krisen, die uns derzeit so in Atem halten. Aber: sind wir dafür bereit? Haben wir tatsächlich schon erfasst, wie sich das technologische Gefüge unserer Welt gerade wandelt? Ich glaube: nein.

In der Mitte der Gesellschaft angekommen

Das Thema KI ist mittlerweile zwar in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Das belegt auch unser Bosch Tech Compass. Mit dieser Umfrage ermitteln wir jährlich die Einstellung von Menschen in sieben Industrieländern zu innovativen Technologien. Demnach halten zwei von drei Befragten weltweit KI für die wichtigste Technologie der kommenden Jahre. Das ist ein erheblicher Anstieg um mehr als 20 Prozentpunkte im Vergleich zum Vorjahr. Vermutlich liegt das vor allem an der Begeisterung für generative KI-Anwendungen wie ChatGPT. Aber die eigentliche Umwälzung besteht ja nicht darin, dass wir uns nun Grußworte oder Lebensläufe vom Computer schreiben lassen können. Das wahre Potenzial der generativen KI wird sich vor allem dann entfalten, wenn sie auch Bilder, Räume oder Zustände deutlich schneller und gründlicher analysieren und beschreiben kann als heute.

Digitaler Hintergrund, der innovative Technologien in den Bereichen künstliche Systeme (KI), neuronale Schnittstellen und maschinelle Internet-Lerntechnologien zeigt.

Damit sind – in Verbindung mit dem klassischen Machine Learning – ganz neue Anwendungsfälle denkbar. KI ahmt bislang vor allem den menschlichen Wahrnehmungsprozess nach. Mit generativer KI aber können wir diesen Prozess nun viel besser mit der physikalischen Welt der Systeme und Maschinen verbinden. So erzeugen wir etwa in unseren Werken synthetische Bilder, die wiederum als Grundlage für eine optische Inspektion auf KI-Grundlage dienen. Das heißt: KI beschleunigt die KI. Die Lücke zwischen Zukunft und Gegenwart schrumpft also immer schneller.

Der KI-Markt ist, wie man in Hannover bestens beobachten konnte, hochdynamisch: Gerade die generative KI wird alte Geschäftsmodelle verdrängen und neue befeuern – ähnlich wie es beim Computer oder Internet der Fall war. Und diese Dynamik ist so groß, dass wir uns gut überlegen müssen, wie wir damit umgehen. KI darf nicht allein technisch gedacht werden. Dazu sind die politischen und gesellschaftlichen Auswirkungen zu groß. Die Debatte über eine internationale Regulierung hat längst begonnen. Das ist auch richtig so: wie bei jeder Technologie, deren Folgen nicht hundertprozentig abzuschätzen sind, ist auch bei KI großes Verantwortungsbewusstsein gefragt.

KI muss nachvollziehbar sein

Wir sollten uns aber von dem Gedanken verabschieden, dass sich die globale Entwicklung von KI durch regionale oder gar lokale Verordnungen aufhalten ließe. Was die EU in ihrem AI-Act vorschlägt, geht ethisch in die richtige Richtung – doch zugleich sollten wir uns vor übertriebener Bürokratie hüten. Die Welt dreht sich bekanntlich schneller als jedes Stempelkarussell. Und gerade in der derzeitigen politischen Lage ist eine zu große Zurückhaltung nicht hilfreich: Denn solange wir einen Missbrauch der KI nicht ausschließen können, müssen wir selbst KI auf allerhöchstem Niveau verstehen und anwenden können. Gesetze sollten deshalb nicht die Technologie an sich, sondern ihre Anwendung und den geordneten Umgang mit ihr definieren. Ein Beispiel dafür wäre eine Pflicht, KI-erstellte Inhalte als solche zu kennzeichnen. Zumal sich neue Technologien vor allem dann durchsetzen werden, wenn sie für die Nutzer nachvollziehbar sind.

Frau schaut auf einen Laptop und nutzt künstliche Intelligenz (AI) spiegelt sich in der Brille.

Umdenken ist erforderlich

Transparenz ist das beste Mittel gegen Manipulation und Misstrauen. Und es hilft gegen die oft überzogene Technikskepsis, die wir seit Jahren in Deutschland erleben. Pessimismus und diffuse Ängste bremsen jeden Fortschritt – wir müssen also so schnell wie möglich wieder aus dieser gefährlichen Stimmungsfalle heraus. Ein wichtiger, erster Schritt dabei ist das Umdenken in unseren Köpfen: Es liegt an uns, ob wir die Zukunft (und damit auch die KI) nur als eine Bedrohung der Gegenwart verstehen oder ob wir eher die enormen Chancen wahrnehmen, die neue Technologien für unsere Wirtschaft und unseren Wohlstand bringen können.

Es liegt an uns, ob wir die Zukunft nur als eine Bedrohung der Gegenwart verstehen oder ob wir eher die enormen Chancen wahrnehmen, die neue Technologien für unsere Wirtschaft und unseren Wohlstand bringen können.

Stefan Hartung, Vorsitzender der Bosch-Geschäftsführung

Eine Einschränkung gibt es allerdings: Technik darf nie zum Selbstzweck werden, sondern muss immer dem Menschen dienen. Verantwortung aber bedeutet weder Verzicht noch Verzagtheit. Das Tempolimit ist schließlich auch nicht vor dem Auto erfunden worden. Was wir in Deutschland und Europa jetzt brauchen, ist Mut, Realitätssinn – und den Willen zur Technologieführerschaft. Das gilt insbesondere für die industriell genutzte KI sowie für alle Anwendungen, die ein besonderes Vertrauen in die Entscheidungen der Algorithmen erfordern. In diesen Bereichen liegen Europas Stärken und Chancen – noch ist Zeit, sie zu nutzen.

 

Dieser Artikel erschien zuerst im Handelsblatt.

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